Madsens Kritik eine "absolute Frechheit"

ZDF-Experte Christian Keller über das Debakel der deutschen Schwimmer im Gespräch mit Christian Hoffrichter

Kopfschütteln über die eigene Leistung und ehrfürchtiges Staunen über die Konkurrenz: Die deutschen Schwimmer erleben in Peking ein Déjà-vu-Erlebnis. ZDF-Experte Christian Keller geht im Interview mit ZDFonline auf Ursachenforschung.

ZDFonline: Die DSV-Schwimmer geben ein trauriges Bild im Wasserwürfel von Peking ab.DSV-Sportdirektor Örjan Madsen spricht von erschreckenden Zeiten. Woran liegt's?

Christian Keller: Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen nach der Olympia-Qualifikation zu hart trainiert haben und sich nicht genügend Ruhe und Zeit gegönnt haben, um regeneriert an den Start zu gehen. Anders sind die Einbrüche auf den letzten Metern nicht zu erklären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einbrechen, weil sie zu wenig trainiert haben.

ZDFonline: Madsen hat Aktive und Trainer dafür kritisiert, dass sie seinem Weg nicht gefolgt seien. Er hat an den Ehrgeiz und den Stolz der Athleten appelliert. Macht er sich es da nicht ein bisschen einfach?

Keller: Ich finde es eine absolute Frechheit, so etwas den Athleten zu unterstellen. Als Örjan Madsen vor zwei Jahren das Amt beim DSV annahm, hätte er eigentlich erkennen müssen, dass er innerhalb der Kürze der Zeit nicht das komplette Fördersystem des Deutschen Schwimm-Verbandes umstellen kann. Denn zum Schwimmverband zählen ja noch ein Schulsystem, ein Universitätssystem und ein Ausbildungssystem. Als ehemaliger Trainer in Bonn und Hamburg hätte er dies wissen können.

ZDFonline: Was muss umgestellt werden?

Keller: Will der DSV international Erfolge haben, muss er ein entsprechendes Fördersystem dagegenstellen. Der Athlet, der sich über einen gewissen Zeitraum nur dem Schwimmsport hingibt und auf Studium oder Ausbildung verzichtet, der will eine Gegenleistung. Die Weltspitze ist mittlerweile so weit weg, weil sie ihr System schon auf Profitum umgestellt hat. In Deutschland ist Schwimmen nur eine Amateur-Randsportart. Der DSV hat große Probleme, den Top-Nationen zu folgen.

ZDFonline: Das Team stand nie richtig hinter Madsen. Wieso hat sich der DSV nicht schon im Vorjahr nach der WM in Melbourne von ihm getrennt?

Keller: Weil Kosten eine Rolle spielen. Der Vertrag mit Örjan Madsen wurde für zwei Jahre abgeschlossen. Er verdient sehr, sehr gut im fünfstelligen Bereich. Der Deutsche Schwimm-Verband ist kein Bundesligaverein, der einfach mal den Trainer tauscht. Außerdem hat man Madsen in den vergangenen 24 Monaten abgenommen, dass da noch was kommt. Er hat immer gesagt, er wolle nur an Olympia gemessen werden. Alles andere waren für ihn Durchgangsstationen.

ZDFonline: Die Hoffnungsträger bleiben reihenweise auf der Strecke: Helge Meeuw, Thomas Rupprath, Antje Buschschulte oder Annika Lurz, die im Vorlauf über 200 Meter Freistil 4,3 Sekunden über ihrem deutschen Rekord anschlug. Wer ist für Sie bislang die größte Enttäuschung?

Keller: Die gesamte Mannschaftsleistung ist die größte Enttäuschung. Der Virus der negativen Einstellungen und Unentschlossenheit hat sich im gesamten Team stark ausgebreitet.

ZDFonline: Liegt das wirklich nur an falsch dosiertem Training? Oder sind wieder mal die Rennanzüge Schuld? Oder haben sich andere Nationen wie die USA womöglich in die Weltspitze gedopt?

Keller: Beim Doping gilt die Unschuldsvermutung. Die Rennanzüge sind sicher auch ein Baustein. Ich wünsche mir, dass einige Athleten bald mal Tacheles reden. Aber da der DSV dies unterdrückt und mit Disziplinarverfahren Druck auf die Aktiven ausübt, wird so schnell keine Wahrheit ans Tageslicht kommen.

ZDFonline: Ein Lichtblick im DSV-Team ist Paul Biedermann, der immerhin Fünfter über 200 Meter Freistil geworden ist. War Biedermann - wie Madsen behauptet - tatsächlich der einzige Athlet, der auf den Norweger hörte?

Keller: Pauls Kernprogramm hat sein Heimtrainer Frank Embacher gemacht. Da kann sich Örjan Madsen jetzt nicht hinstellen und behaupten, Paul Biedermann sei als einziger von 26 Athleten seinem Konzept gefolgt.

von Christian Hoffrichter, Peking